Kapitel 1

Meine Beziehung mit Samuel hatte sich verändert und wir lebten nur noch träge nebeneinanderher. «Aber noch eine Woche», dachte ich an diesem Sonntag, «und dann haben wir Urlaub – vielleicht kommen wir uns da wieder näher». Samuel war und ist immer noch ein Partylöwe. Und so war er schon, als wir zusammengekommen sind. Er hat sich in den zwei Jahren, seitdem wir ein Paar waren, nicht gross verändert.

 

Ich habe mich allerdings - nach meiner heutigen Meinung - in hohem Masse zum Negativen verändert. Meine ganze Einstellung beruhte auf Hass. Hass gegen alle Menschen. Beim Amt, in dem ich gearbeitet habe, sind alle möglichen Personen zusammengekommen. Mein Hass richtete sind gegen alle, die dort angemeldet waren und mich verbal angegriffen haben. Und ebenso gegen gewisse Firmen, dessen HR-Verantwortlichen nicht besser sind. Und leider sind die verbalen Angriffe täglich vorgekommen. Mein Hass richtete sich dementsprechend gegen alle und gegen die Schweiz selbst.

 

2015: Zitat eines «Kunden» beim Amt, der Schweizer Nationalbürger ist: «Wenn ich ein «Jugo» wäre, hätte ich das Geld schon längst.»

 

Ich hatte einen «Nerv-Block» (Schreibblock), in dem ich alles aufschrieb, was mich, wie der Name schon sagt, nervte. Der letzte Eintrag, den ich am Sonntag zuvor, also eine Woche vor dem Schlaganfall, geschrieben habe und der der letzte Eintrag vor dem Schlaganfall war, ist, meines Erachtens, schockierend.

 

Es ging darum, dass ein Paar, das zumindest Verwandte im Ostblock hatte, an unserer Stammbar, der Krone vorbeilief. Es war Sommer, der Wintergarten war offen und Gäste sassen im Garten, der zum Weg führte, wo das Pärchen das Restaurant passierte. Ich muss jetzt immer noch sagen: Sie hatten einen, bei allem Respekt, einfältigen Blick. Ich nahm den Block und einen Stift in der Bar raus, blätterte zu der letzten beschriebenen Seite und begann zu schreiben. Zu Ende hatte ich eine A4-Seite geschrieben. Der Text lautete ungefähr so:

 

«Was schaut ihr so dämlich??? Verschwindet zurück, wo ihr hergekommen seid! Und wenn ihr euch weigert, statuieren wir ein Exempel und schlitzen euch mit einem Jagdmesser den Bauch auf und hängen euch an den Gedärmen an eine Strassenlaterne!!!!!»

 

Wie oben gewarnt – Schockierend!

 

Zusätzlich stand ich, wegen den ständigen Beleidigungen von "Kunden" bei der Arbeit, die ich persönlich nicht verkraftete, kurz vor einem Burnout. Die letzte Woche vor dem Schlaganfall habe ich täglich nicht mehr als 2-3 Stunden geschlafen. Ich ging morgens um 03.00 Uhr ins Freibad, dass sich neben unserem Doppelhaus befand. Wir wohnten am See und im Freibad war - natürlich - das grösste Becken, der See. Ich setzte mich auf den Rasen oder auf die grossen Steine, die das Ufer des Sees bilden und betrachtete den Himmel. Gelegentlich baute sich ein Sturm auf. Es war auch ein aussergewöhnlich warmer Sommer...

 

Nun - wäre ein Burnout besser gewesen als der Schlaganfall? Das kann ich nicht beurteilen. Fact ist aber, dass ich im Sommer 2015 am Sonntagabend ungefähr um 19.00 Uhr auf dem Boden sass und mit dem Rücken ans Sofa lehnte.

 

Und jetzt kommt der schwierige Teil... Wie erkläre ich jemandem, der noch nie einen Schlaganfall hatte, wie sich das anfüllt, wie das ist, was passiert? Wohlgemerkt, es ist ein Fehler im Gehirn und das Gehirn steuert alles. Die Balance, die Sicht, die gesamte Motorik. Es bestimmt, wann wir aufs Klo müssen, wann wir Hunger haben und wie unser Gemütszustand ist.

 

Das erste Symptom, dass ich wahrnahm, war mein taubes Bein. Ich sass also am Sofa lehnend auf dem Boden und machte mir extreme Sorgen. Mein Kopf war anhin klar.

 

Plötzlich sacken meine Sorgen gegen den Nullpunkt. Ich schmunzelte und begann in den Fernseher zu sehen, den ich zuvor ausschalten wollte. Deshalb bin ich ja überhaupt ins Wohnzimmer gekommen. Aber einmal schaute ich in den Fernseher, einmal driftete mein Blick nach oben und ich betrachtete den Eckpunkt zwischen Wand und Decke. Es erinnerte mich an das High-Gefühl, wenn man Cannabis raucht. Nur das ich keine Lachflashs hatte. Aber der "Flash" war nicht nach 3 Stunden vorbei. Es war alles egal und ich trieb mental in die Dunkelheit ab. Ich erinnere mich an wenige Ereignisse in den nächsten zwei Tagen - die meiste Zeit liegt in der Finsternis.

 

Ich weiss nicht, wie lange es ging, bis Samuel mich vermisste, aber irgendwann kam er hoch, um nach mir zusehen. Er wusste über meinen Burnout-gefährdenden Zustand Bescheid und war der Ansicht, dass ich einen Nervenzusammenbruch erlitten hatte. Er trug mich ins Bett und ich denke, ich bin ziemlich bald eingeschlafen.

 

Am nächsten Morgen musste Samuel früher raus und als ich aufwachte, war er schon weg. Gegen Mittag rief meine Chefin zweimal an. Ich betrachtete mein Telefon, wusste aber erstens nicht mehr, wie man das Telefon abhob. Zweitens hatte ich ein bisschen Mühe mich auszudrücken. Ich hatte es vergessen. Ich wusste nicht mehr, wie man Wörter bildet und sie ausspricht. Das interessierte mich aber ziemlich wenig, schliesslich wollte ich ja die Wand betrachten.

 

Am Mittag kam Samuel nach Hause, weil ihn eine meiner Arbeitskolleginnen, mit der wir uns auch privat trafen, angerufen hatte. Er kam ins Zimmer und gab mir einen Kuss. Ich sah ihn an, aber eigentlich schaute ich durch ihn hindurch. Leider hat er das nicht wahrgenommen. Ich hörte, wie er mit Anna, meiner Kollegin telefonierte und meinte, dass ich sehr wahrscheinlich einen Zusammenbruch erlitten hatte.

 

Wer kommt denn auch darauf, dass eine 27-jährige an einem Schlaganfall erkrankt.

 

Er ging wieder zur Arbeit und ich lag erneut allein im Bett.

 

Nachfolgend ein Bild von einem Schlaganfallopfer (Krankheitsbild: ischämischer Schlaganfall):

Nach meiner Schätzung war der halbe Montag Nachmittag vergangen und ich musste auf Klo. Ich war nicht mehr in der Lage zu Laufen, aufstehen wollte (und konnte) ich nicht und mir war sowieso alles egal – ein Schlaganfall senkt die Hemmschwelle anscheinend drastisch. Also liess ich es laufen und pinkelte ins Bett.

 

Wie gesagt, es ist ein Fehler im Gehirn. In meiner linken Halsschlagader hat sich ein Teil der Ader-Wand gelöst – man nennt dies einen «Plug». Der Plug floss mit dem Blut in der Ader mit und steuerte auf meinen Kopf zu. Die Halsschlagader verzweigt sich im Hirn in mehrere kleineren Adern, bis hin zu den kleinsten Adern, die  Kapillaren genannt werden. Die Kapillaren versorgen das ganze Hirn bis in die Mitte mit Blut und natürlich Sauerstoff. Und den Sauerstoff brauchen alle Zellen in unserem ganzen Körper, damit sie funktionieren. Man kann das auch an uns Menschen anlehnen. Wenn wir keinen Sauerstoff atmen können, versticken wir, ergo sind wir tot. Genau das gleiche passiert mit den Zellen, wenn sie vom Hirn keinen Sauerstoff mehr bekommen. Sie sterben.

 

Die Hirnhälften sind spiegelverkehrt. Die rechte Hirnhälfte steuert die linke Körperseite, die linke Hirnhälfte die rechte Körperseite. Ich hatte also in der linken Hirnhälfte einen Plug, der die Arterien verstopfte und dementsprechend hatte das Auswirkungen auf meine rechte Körperhälfte. Beispielsweise mein taubes rechtes Bein resp. – nennen wir es beim Namen – mein gelähmtes rechtes Bein.

 

Ich merke die Nässe von meinem Urin nicht, rollte mich aber auf Samuels Seite des Bettes. Am Abend kam Samuel nach Hause und hob mich vom Bett auf das Sofa, weil ich eine Zigarette rauchen wollte. Wie ich ihm meinen Wunsch nach Nikotin mitgeteilt habe, ist mir ein Rätsel. Mein Einnässen war wieder getrocknet und Samuel merke nichts. Irgendwann trug er mich wieder ins Bett, aber ich war bereits wieder in der Finsternis. Ein Teil meines Hirns hatte schon seit 24 Stunden schweren Sauerstoffmangel. Das war am Montag Abend.

 

Vom Dienstag ist mir nur noch ein Traum bewusst, den ich am Nachmittag hatte. Ich glaubte, dass wir wieder im Mittelalter waren, und sah mein Dorf, wie es damals ausgesehen haben musste. Alle waren mit Kutschen, Pferden oder zu Fuss unterwegs. Die Kutschen transportierten Weizenhalme, die zu den Mühlen gebracht wurden. Es gab Riegelhäuser (wobei ich nicht einmal weiss, ob die im Mittelalter existiert haben) und ich stellte mir die Krone als Saloon vor. Aber, Samuel hatte immer noch seinen Van. Er war der einzige mit einem Auto. Ich träumte, dass ich zu Hause auf ihn wartete und einige Male sah ich ihn, natürlich im Traum, an unserem Haus vorbeifahren.

 

Samuel kam am Dienstag Abend nach Hause, aber daran erinnere ich mich nur noch schwach. Nach 20.00 Uhr rief mich die damalige Freundin meines Vaters an. Ich konnte nicht abnehmen, aber merkte, dass mit mir etwas gar nicht stimmte. Irgendwie rief ich Samuel ins Zimmer. Es kann sein, dass ich einen Laut wie «ääähhh» von mir gegeben habe. Es kann auch sein, dass ich ans Bett geklopft habe. Keine Ahnung, aber er kam schlussendlich ins Schlafzimmer und ich zeigte ihm, dass Julia angerufen hat und er sie bitte zurückrufen soll. Soweit es mir noch bewusst ist, habe ich auf mein Handy geschlagen, gewinselt und ihn angeschaut. Ich bin mir aber nicht mehr sicher.

 

Julia kam ca. 10 Minuten später bei uns an. Sie wohnte im gleichen Dorf, nicht weit von uns entfernt. Nach ihrer späteren Erzählung lag ich im Bett, hatte die Decke nur bis zu den Hüften und obenrum war ich nackt. Sie wollte mit mir reden, aber ich konnte nicht sprechen. Sie sah Samuel an und sagte: «Irgendetwas stimmt hier ganz und gar nicht. Sofort in die Notaufnahme!» Sie zogen mich an und Samuel trug mich die Wendeltreppe hinunter und setzte mich ins Auto auf den Beifahrersitz. Julia stieg hinten ein und wir fuhren zum Krankenhaus.

 

Das war Dienstag um ca. 22.00 Uhr. Seit meinem ersten Symptom sind 51 Stunden vergangen.