Kapitel 2

Nach einer 10-minütigen Fahrt kamen wir in der Notaufnahme des Krankenhauses an. Ich habe es nicht mitbekommen, aber anscheinend hatte entweder Samuel oder Julia Kontakt mit dem Spital, denn eine Pflegerin wartete schon mit einem Rollstuhl bei der Türe. Von der Einlieferung ist mir leider nichts mehr bekannt. Aber an eine Situation kann ich mich noch erinnern: Ich lag auf dem Schragen und jemand sagte mir, dass ich einen Schlaganfall hätte, aber alles wieder gut werden würde. Ich schüttelte den Kopf. Meine Motorik war so gestört, dass ich nicht mehr nicken konnte.

 

Am Dienstag etwa um 23.00 Uhr wurde ich mit dem Krankenwagen in das grössere Krankenhaus gefahren, in dem sich eine Stroke-Unit (englisch: «stroke» = Schlaganfall / «Unit» = Station) befand. Julia informierte meinen Vater und er kam sofort ins Spital. Das weiss ich noch genau. Ich kann mich aber nur dunkel an die ganzen Untersuchungen erinnern. Natürlich wurde ein CT und MRT gemacht und ich glaube dann kam ich zuerst einmal auf die Intensivstation.

Ich weiss noch ganz genau, um 03.00 Uhr weckten mich die Pfleger, um meine Vitalzeichen zu überprüfen. Ich glaube, dass machen sie auf der Intensivstation alle 3 Stunden. «Oh man, lasst mich doch schlafen», dachte ich. Die Überprüfung ging aber relativ schnell und nach 3 Minuten konnte ich mich wieder zur Ruhe legen.

 

Am Anfang erinnerte mein Aufenthalt in der Intensivstation an eine Folge von Grey’s Anatomy. Geschätzt 15 Assistenzärzte und -ärztinnen schlugen verschiedene Untersuchungen vor. Das Krankenhaus besteht aus mehreren Gebäudekomplexen, in denen die verschiedenen Abteilungen (Neurologie, Kardiologie, Hämatologie, etc.) liegen. Die Verbindungswege liegen unterhalb der Gebäude. Ich bin effektiv sehr stolz auf die Pflegekräfte! Wie kann man sich da zurechtfinden?! Obwohl… vielleicht sollte ich es nochmals beurteilen, wenn mein Hirn nicht 51 Stunden an Sauerstoffentzug litt und ich auf keinem Schragen liege. Das verändert die Orientierung ungemein, wenn man nur die Decke sieht und herumgeschoben wird.

 

Zurück zum Thema:

 

Die rechte Körperhälfte war komplett gelähmt. Ich konnte meine Zehen nicht bewegen, nicht laufen, meinen Knöcheln, mein Knie und meine Hüfte nicht bewegen oder biegen, meinen Arm und meine Hand nicht benutzten und meine rechte Gesichtshälfte hing runter. Ich hatte eine Aphasie, die meine Muttersprache, Deutsch, wie auch alle Fremdsprachen, die ich (mehr oder weniger) beherrschte, umfasste. Meine Zunge war halbseitig gelähmt, was beim Essen äusserst schmerzhaft enden konnte. Zusätzlich war die Steuerung meiner Blase ebenfalls betroffen, sodass ich keine Kontrolle über meinen Urinausfluss hatte. Also wurde mir ein Katheter eingesetzt. Aber leider war er nicht dicht.

 

Ich erinnere mich noch, dass ich gynäkologisch untersucht werden sollte. Man schob mich mit dem Bett einmal mehr durch die unterirdischen Gänge. Auf der Gynäkologischen Abteilung setzte meine Betreuerin mit einem anderen Pfleger in einen Rollstuhl und schob mich in eine Ecke des Wartezimmers. «Es kommt gleich eine andere Pflegerin zu dir», sagte sie und machte sich, für die Dauer meiner Untersuchung, auf den Rückweg, um anderen Patienten zu helfen.

 

Der Katheter hielt, solange ich lag… Als ich etwa fünf Minuten im Rollstuhl sass, merkte ich, dass meine linke Leiste und mein Hintern nass wurden. Mir war unangenehm, dass andere Patienten das Sehen würden. Das Einnässen an sich störte mich weniger. Irgendwann wurde ich dann abgeholt und zur Frauenärztin geschoben. Es kann nach zwei Minuten gewesen sein oder nach ½ Stunde. Ich weiss es nicht.

 

Der Pfleger legte mich auf den gynäkologischen Stuhl und die Ärztin wollte mir die Hose ausziehen. Sie stelle entsetzt fest, dass meine Unterkleider voller Urin waren, und gab dem Pfleger umgehend die Anweisung, mich untenrum zu waschen. Als sie mich wieder ansah, war mir bewusst, dass sie den Zustand, in dem ich mich befand und die Tatsache, dass ich mich weder ausdrücken noch bemerkbar machen konnte, erkannte und mir helfen wollte.

 

Nachdem ich untenrum gewaschen wurde, nahm die Ärztin die Untersuchung vor. Erstaunlicherweise resp. Gott sei Dank, war nur meine Blase von der Lähmung in Mitleidenschaft gezogen worden und ich spürte eine ganz normale gynäkologische Untersuchung, wie ich sie schon mehrere Male zu vor, bei der alljährlichen frauenärztlichen Kontrolle, miterlebt hatte. Das beruhigte mich.

 

Ich habe mir keine «Gedanken» über irgendetwas gemacht. Zu diesem Zeitpunkt war ich noch auf der Intensivstation und die aktuelle Beschädigung meines Gehirns war so gross wie eine Faust. Ich bekam täglich etwa acht Tabletten. Mehrere Blutverdünner und ein oder zwei Schlafmittel waren darunter. Die Kombination von den Medikamenten und meinem momentanen Zustand machten es unmöglich mir meine wahren Gefühle zu offenbaren. Ich hatte mir noch nicht mal Gedanken gemacht, wieso ich überhaupt hier bin.

 

Anscheinend war die Beruhigung, dass meine Vulva noch in Takt war, unterbewusst beziehungsweise betraf meinen Östrogen-Haushalt, was nicht Teil der bewussten Kontrolle ist. Diesen Umstand betrifft das vegetative (bzw. autonomisches) Nervensystem. Das sind die Prozesse in unserem Körper, die wir nicht steuern können. Das betrifft unteranderem:

 

  • Hunger
  • Durst
  • Erregung
  • Periode und deren Stimmungsschwankungen
  • Ekel
  • Schwangerschaftsgelüste
  • Verhalten in Pubertät

 

Und vieles, vieles mehr.

 

Bei einem anderen Untersuch wollten die Ärzte mein Herz auf kleine Löcher prüfen. Das könnte den Schlaganfall verursacht haben. Mir wurde ein Kontrastmittel gespritzt. In der Arterie am Knöchel (ich glaube, es war der rechte), setzten sie eine Kamera ein. Ich musste einen Fuss hochhalten. Es war unbequem. Ich denke nicht, dass ich den Fuss mit eigener Muskelkraft hochhielt – wenn es der rechte Fuss war, definitiv nicht. Das Bein war ja gelähmt. Mitten im Untersuch, rutschte ich wieder in die Dunkelheit ab.

 

Mein Vater kam auf die Intensivstation. Er weinte. Anscheinend hat er allen Besuchern die Anweisung gegeben, nicht vor mir zu weinen. Aber er war der Einzige, der die Tränen nicht zurückhalten konnte. Mir hat es nichts ausgemacht. Wie gesagt, ich habe mir bis zu diesem Zeitpunkt auch noch keine Gedanken gemacht, wieso ich überhaupt im Spital war.

 

Es ist ungewöhnlich, dass ein junger Mensch einen Schlaganfall hat. Dementsprechend waren alle Assistenzärzte sehr an meinem Fall und daher rührte wahrscheinlich mein Eindruck, dass ich in einer Folge von Grey’s Anatomy war. Allerdings kam bei allen Untersuchungen nichts raus. Ich habe keinen Herzfehler, kein hohes Cholesterin, keinen hohen Blutdruck, kein Übergewicht, kein Diabetes, nichts. Also keinen ersichtlichen Grund, wieso sich ein Plug gelöst hat.

 

Ich muss aber ehrlich sein, ich rauche und habe damals auch noch die Antibabypille genommen. Natürlich könnte man diesem Umstand die Schuld geben. Im übertragenden Sinn habe ich dementsprechend selbst schuld. Man kann das so sehen. Das überlasse ich der Meinung des Lesenden.

 

Seit dem Tag, an dem ich den Schlaganfall hatte, nehme ich keine Hormone mehr. Ich rauche immer noch Zigaretten, allerdings habe ich es massiv reduziert. Ebenfalls rauche ich seit dem Schlaganfall Cannabis.